Unterrichtsalltag in der Folkeskole/ folkeskolens dagligdag

Beiträge für beide Zielgruppen: Deutsch und dänisch.
Indlæg for begge målgrupper: Dansk og tysk
Antworten
Agnes78
Neues Mitglied
Beiträge: 4
Registriert: 07.11.2008, 10:11

Unterrichtsalltag in der Folkeskole/ folkeskolens dagligdag

Beitrag von Agnes78 »

Ich wende mich an Euch mit der Bitte um Hilfe!

Ich halte in der nächsten Woche einen Uni-Vortrag über die dänische Folkeskole und habe viele Infos zum Aufbau und gesetzlichen Bestimmungen gefunden. Was mir fehlt ist eine Beschreibung des Alltags: wie ist ein Folkeskoletag konkret aufgebaut; gibt es morgensamlinger; wie laufen der binnendifferenzierte Unterricht und der fächerübergreifende Unterricht tatsächlich ab; wie setzt sich das Lehrerkollegium zusammen (gibt es Schulpsychologen, gibt es wie in Finnland Mgl., 2 Lehrer bzw. einen Hilfslehrer in den unteren Klassen zu haben)? Fragen über Fragen und es findet sich nichts Konkretes. - Könnt Ihr mir einige Antworten geben bzw. Verweise auf Artikel u.ä.?

Jeg forstaar ogsaa dansk!!!

Viele Grüße von Agnes
MichaelD
Mitglied
Beiträge: 717
Registriert: 18.04.2002, 14:33
Wohnort: Kopenhagen, Danmark

Beitrag von MichaelD »

Ein riesiges Thema!
Ich habe Kinder in der 3. und 1. Klasse einer gewöhnlichen dänischen kommunalen Folkeskole. Ich kann mich primär nur über die Verhältnisse an dieser Schule und eben die kleinen Klassen auslassen.

Schon von der Vorklasse ab haben die Kinder Unterricht von ca. 8 bis ca. 13 Uhr, alle 5 Tage die Woche. In der dritten Klasse geht es auch mal bis 14 Uhr. Es ist klar, dass ein erheblicher Teil dessen, was in den kleinsten Klassen abläuft, gemütliches Zusammensein mit spielerischem Lernen ist.
Die Kinder sitzen z.B. Montags zusammen in der Kissenecke und erzählen reihum, was sie das Wochenende erlebt haben, usw. In der Vorklasse passiert täglich vieles reihum, alle wiederholen etwa welcher Wochentag, Monat und Jahreszeit gerade ist, Tag für Tag, bis es alle können - was die cleveren Kinder natürlich sterbenslangweilig finden.

Morgensamlungen oder besser Morgenrituale gibt es in dem Umfang, in dem Lehrer das für sinnvoll halten, um die allgemeine Morgenunruhe in den Griff zu bekommen. Viele Kinder werden ja lange vor Schulbeginn im der Schule zugeordneten Hort abgeliefert, und haben dann schon einige Konflikte. Andere müssen erstmal etwas überschüssige Energie abbrennen. Ausserdem gibt es bei uns kommunale Programme, z.B. dass die Schüler zweimal pro Woche den Tag mit einem kleinen Dauerlauf beginnen sollen. Die Schule hat beschlossen, dass es einmal die Woche morgens gemeinschaftliches Singen gibt, zusammen mit anderen Klassen.
All diese Dinge stehen aber unter der Voraussetzung des Urteils des Lehrers, der hier mit dem Fachlichen und Sozialen abwägen muss, und der den morgendlichen Dauerlauf auch mal ein paar Wochen ausfallen lässt.

Schulpsychologen gibt es in DK typischerweise einen für mehrere Schulen.

Die Klassen haben faktisch zwei Klassenlehrer, der eine unterrichtet vor allem Mathematik, der andere vor allem Dänisch. Dazu kommen Spielstunde (nur für die Kleinsten), Christentum und für die grösseren Geschichte und Englisch (bei uns ab 3. Klasse). Andere Lehrer unterrichten Sport, Musik, Natur&Technik.

Doppellehrerunterricht gibt es stundenweise in den kleinsten Klassen, besonders Vorklasse und 1. Klasse, bei besonderen Bedarfen (viele Migranten, Mobbing/grosse Unruhe u.ä.) aber auch später. Etwa ein-zwei Stunden an 3-4 Tagen in den kleinen Klassen. Anstatt eines Lehrers ist die zweite Person oft ein Hortpädagoge. Der Doppellehrerunterricht, der einen wesentlichen Träger des binnendifferenzierten Unterrichts darstellt, ist in den letzten Jahren ständig zurückgegangen, besonders in der 2. und sowieso in der 3. Klasse, wo er jetzt weg ist. Die Schulen entscheiden selber über den Ressourceneinsatz, ausgehend von den Mittelzuteilungen der Träger, der Kommunen, und die Finanzlage der dänischen Kommunen ist in den letzten Jahren generell sehr eng geworden.

Eine Variante des allgemeinen Doppellehrerunterrichts ist der Unterricht, in dem neben dem Lehrer ein Spezialpädagoge anwesend ist. Diese werden von der Kommune stundenweise zugeteilt, wenn in der Klasse Kinder "mit einer Diagnose" sind. Die Spezialpädagogen wirken aber auch beim generellen Unterricht mit, und unterstützen damit auch den binnendifferenzierten Unterricht. Auch hier gilt, dass die Mittel zunehmend restriktiv vergeben werden. Und das, obwohl seit der Kommunalreform, die den Kommunen die volle Verantwortung für jede Form von behinderten Kindern gegeben hat, nun mehr und mehr leicht Behinderte (leichte ADHD, Asperger u.ä.) in gewöhnliche Klassen gepresst werden, ebenfalls aus Kostengründen.

Zum binnendifferenzierten Unterricht ist noch zuzufügen, dass man einzelne, tüchtige, gelangweilt-unruhige Kinder schon mal mit Lernprogrammen an einen Computer im Klassenraum setzt, oder sie auch in der Klasse drüber mal teilnehmen lässt. Sind zwei Erwachsene anwesend, wird die Klasse auch mal räumlich aufgeteilt, und es läuft verschiedener Untericht.

Es ist klar, dass tüchtige Schüler in der Stunde regelmässig Extraaufgaben kriegen, und dass sie etwas schwierigere Lesebücher für das elterndelegerte Lesenüben erhalten usw. Es gibt ja von diesem Lesen abgesehen normalerweise keine Hausaufgaben, allerdings müssen die langsamen Kinder das zu Hause machen, was sie in der Schule nicht geschafft haben.

Fächerübergreifender Unterricht findet statt in Form von einzelnen "Featurewochen", in denen dann z.B. "die englischsprachigen Länder" durchgenommen werden. Ausserdem stimmen die Lehrer schon mal Unterrichtsthemen ab, so dass die Kinder etwa im Rahmen normaler Stunden die Entstehung der Welt oder das Thema Wikinger aus verschiedenen Winkeln in der gleichen Woche lernen/malen usw.

Ich bin nicht in der Branche und habe daher keine Artikel.

Viel Erfolg,
Michael
Benutzeravatar
Lars J. Helbo
Mitglied
Beiträge: 7370
Registriert: 23.06.2002, 22:08
Wohnort: Sall
Kontaktdaten:

Beitrag von Lars J. Helbo »

Ja, ein riesiges Thema und es gibt vermutlich eine andere Antwort für jede der 1500 öffentliche Schulen in DK :wink:

Das meiste kann ich zustimmen. Ergänzend aus unsere kleine Schule hier im Ort - der nächstes Jahr frei wird:

Morgensammlung ja, immer mit ein Lied und (vielleicht etwas ungewöhnlich) mit Vater Unser gemeinsam gebetet. Einmal der Woche auch 20 Minuten gemeinsames Morgengymnastik.

Die Pädagogen, die in der Freizeitbetreuung beschäftigt sind, haben auch teilweise Stunden in der Schule, z.B. als der zweite Lehrer in einige Stunden oder bei "Lektiehjælp"-Stunden.

Fächerübergreifen und Niveauintegriert gibt es in den "großen" Klassen (3. bis 6) jetzt ganz intensiv. Diese Klassen haben jetzt nur vier Fächer: Dänisch, Mathematik, Englisch und Thema. In dem Fach Thema sind alle andere Fächer zusammengebracht und in aller Regel sind mehrere von den vier Klassen zusammen. Der Unterricht wird dann über einige Wochen um ein bestimmtes Thema aufgebaut - z.B. Afrika oder Weihnachten. Nur ist das natürlich speziel für unsere Schule.

Erwähnen könnte man auch ein Experiment, dass gerade in Århus auf drei Schulen gestartet ist.

http://www.aarhuskommune.dk/portal/borger/skole_uddannelse/folkeskole/projekter_aktiviteter/rullende_skolestart

Hier wurden die Klassen 0, 1 und 2 aufgelöst. Stattdessen gibt es so genannte Basisgruppen, die jeweils Kinder von alle drei Jahrgänge umfassen. Neu ist auch, dass es vier mal im Jahr Schulanfang gibt, wo neue Kinder reinkommen.
Agnes78
Neues Mitglied
Beiträge: 4
Registriert: 07.11.2008, 10:11

Beitrag von Agnes78 »

Hallo Michael und Lars,

ich möchte Euch sehr herzlich für die ausführlichen Infos danken - damit habt Ihr mir wirklich weiter geholfen!
Es ist interessant zu erfahren, dass in DK in letzter Zeit finanzielle Kürzungen im Bildungsbereich vorgenommen werden und zwei Beispiele zu bekommen für die Ausgestaltungsfreiheit der einzelnen Schulen.

Ich habe noch weitere Fragen, mit denen Ihr mir evt. auch weiterhelfen könnt:

1. Welche Mitarbeiter gibt es an Folkeskolern (außer Lehrern, Pädagogen, Hausmeister. Reinigungspersonal?) - wie ist es z.B. mit dem vejleder?
2. Früher ab es am Ende der 9. und 10. Klasse unterschiedl. Examen bzw. unterschiedliche Fächerniveaus (Folkeskolens afgangsproeve/ udvidede afgangsproeve). Gibt es das System der Fächerdifferenzierung und die zwei Prüfungen noch?
3. Was sind Lektiehjaelp-Stunden? Fallen die in die reguläre Unterrichtszeit oder ist das schon SFO-Zeit?
4. Gilt das Taxameter-Prinzip auch für Folkeskoler?
5. Ab der 8. Klasse gibt es ja Zensuren. Gibt es die zweimal jährlich (wie vorher die shriftlichen Beurteilungen) oder werden (wie in Deutschland) Kontrollen und Klassenarbeiten geschrieben + mündliche Noten verteilt, die dann zusammen eine Halbjahresnote ergeben?

Ich würde mich sehr freuen, nochmals von Euch zu hören.
In jedem Falle "Tusind tak for hjaelpen"!!

Agnes
Benutzeravatar
Lars J. Helbo
Mitglied
Beiträge: 7370
Registriert: 23.06.2002, 22:08
Wohnort: Sall
Kontaktdaten:

Beitrag von Lars J. Helbo »

Agnes78 hat geschrieben: 1. Welche Mitarbeiter gibt es an Folkeskolern (außer Lehrern, Pädagogen, Hausmeister. Reinigungspersonal?) - wie ist es z.B. mit dem vejleder
Das sind auch Lehrer - die haben sich nur in diesem Bereich spezialisiert.
Agnes78 hat geschrieben:3. Was sind Lektiehjaelp-Stunden? Fallen die in die reguläre Unterrichtszeit oder ist das schon SFO-Zeit?
Also bei uns waren es Stunden in der Schulzeit. Die Schüler konnten in diesen Stunden entweder im Schulhof gehen uns spielen, oder sie konnten in die SFO gehen (liegt auf der andere Straßenseite), wo die Pädagogen dann mit Schularbeiten geholfen haben.
Agnes78 hat geschrieben:4. Gilt das Taxameter-Prinzip auch für Folkeskoler?
Ja, in so fern, als die Schulen bekommen Geld je nachdem, wie viele Schüler sie am 5. September haben.
MichaelD
Mitglied
Beiträge: 717
Registriert: 18.04.2002, 14:33
Wohnort: Kopenhagen, Danmark

Beitrag von MichaelD »

1) ist schwer zu beantworten, da verschiedenes Personal nur stunden- oder tageweise der Schule zugeordnet und an ihr anwesend ist.
An unserer Schule von 700 Schülern gibt es noch drei Bibliotekare und eine "Hör-Sprech-Pädagogin". Scheinbar die meiste Zeit ist auch ein Zahnärztin anwesend und oft/stundenweise eine weitergebildede Krankenschwester (sundhedsplejerske) und eine Ärztin. Ein Lehrer ist nebenbei SSP-Vertreter, d.h. er Arbeit mit der Vorbeugung von Kriminalität, Drogen, sozialen Problemen u.ä. in Zusammenarbeit mit der Polizei.

Lektiehjælpstunden können bei uns dreierlei sein: Ein freiwilliges nachmittägliches Angebot einmal die Woche in Perioden, eine gleichzeitige Leistung, die auf einer verpflichtenden Absprache zwischen Eltern und Schule gründet, oder ein pädagogisches Programm für einige schwache Schüler während der Schulzeit, in der sie stundenweise aus anderem Unterricht herausgenommen werden. Es ist wichtig zu verstehen, dass tägliche Hausaufgabenhilfe im Hort nicht besteht, ja nicht einmal Bedingungen für konzentriertes selbständiges Arbeiten.

Es ist nicht mein Eindruck, dass ein Taxametersystem für Folkeskoler über Gesetze/Verordnungen eingeführt worden ist. Es sind auch verschiedene Vorraussetzungen d.h. Handlungsmöglichkeiten/ Kompetenzen für die Schule nicht gegegeben, so dass ein solches System nur zu Pseudogerechtigkeit führt. Z.B. werden Schülerzahlen pro Jahrgang trotz "freien Schulwahl" politisch-administrativ zugeteilt. Die Kommunen stellen selber die Kriterien auf, nach denen sie die Mittel zuteilen. Unsere Gemeinde wendet allerdings auch eine Art Taxametersystem an, dass durch Sonderzuwendungen ergänzt wird.
Agnes78
Neues Mitglied
Beiträge: 4
Registriert: 07.11.2008, 10:11

Beitrag von Agnes78 »

Hallo Ihr,

vielen Dank nochmals für die schnellen Antworten. Alles sehr informativ!
Ich merke, dass ich die eine Frage nicht richtig gestellt habe und möchte es jetzt nochmals versuchen:

Gibt es an der Folkeskole eine Art Niveaudifferenzierung in einzelnen Fächern? Am Gym. finden sich ja Fächer auf A-, B- oder C-Level. Gibt es an der Folkeskole vergleichbar die Möglichkeit, z.B. Englisch auf niedrigerem und höherem Niveau zu belegen? Ich vermute, eine solche Differenzierung gibt es nicht, meine aber gelesen zu haben, dass dies früher mal der Fall war.
Deshalb meine - wenn auch kleine - Unsicherheit!

Wißt Ihr eine Antwort?

Viele Grüße von Agnes
Agnes78
Neues Mitglied
Beiträge: 4
Registriert: 07.11.2008, 10:11

Beitrag von Agnes78 »

Ach ja, noch etwas: wie sieht es mit dem Projektunterricht und dem fächerübergreifenden Arbeiten in den höheren Klassen aus? Lars, weißt Du das evt. auch?
MichaelD
Mitglied
Beiträge: 717
Registriert: 18.04.2002, 14:33
Wohnort: Kopenhagen, Danmark

Beitrag von MichaelD »

Nein, es gibt keine auf Sonderung basierende Niveaudifferenzierung. Das ist mindestens 30 Jahre her, wenn es denn im Rahmen der Folkeskole jemals existierte. Der Gedanke einer systematischen fachlichen Förderung der tüchtigen Schüler liegt dem Folkeskolewesen fern, das immer wieder gehörte Motto ist, "die Starken werden schon selber zurechtkommen". Der Fokus ist auf Förderung und Integration der Schwachen.
Benutzeravatar
Lars J. Helbo
Mitglied
Beiträge: 7370
Registriert: 23.06.2002, 22:08
Wohnort: Sall
Kontaktdaten:

Beitrag von Lars J. Helbo »

Agnes78 hat geschrieben:Wie sieht es mit dem Projektunterricht und dem fächerübergreifenden Arbeiten in den höheren Klassen aus?
Das ist alles von Schule zu Schule unterschiedlich. Die Schule hier im Ort hat also im Moment nur die Klassen 0-6. Bei den großen in den Klassen 3-6 gibt es das jetzt ganz intensiv in dem Fach "Emne". Dort sind alle Stunden außer Dänisch, Mathematik und Englisch zusammengelegt, es wird nur mit Projekte gearbeitet und in aller Regel mindestens 2 Klassen - aber oft alle 4 zusammen - wo dann Gruppen mit mehrere Jahrgänge gebildet werden.

So was erfordert aber ziemlich viel Verwaltungsaufwand. In der Folkeskole hat jedes Fach nämlich ein vom Gesetzgeber vorgeschriebene Mindeststundenzahl. Deshalb muss die Schule nachweisen, dass alle die kleinen Fächer ihre vorgeschriebene Stundenzahl innerhalb des Faches Emne bekommen - und zwar für jede der vier Jahrgänge.

Diesen Aufwand entfällt bei uns im nächsten Jahr, wenn die Schule frei wird. Für freie Schulen gelten diese Mindeststundenzahlen nämlich nicht.

Was die Niveaudifferenzierung angeht, kann ich Michael nur zustimmen. Nach dem Gesetz soll sie innerhalb der Klasse stattfinden. Das ist aber meistens reiner Theorie. Wenn ein Lehrer 26 bis 28 Schüler hat, ist es eben viel einfacher, die schwachen in Spezialklassen abzuschieben, sich um die Mitte zu konzentrieren und den starken sich selbst überlassen.

Das ist übrigens auch ein Thema bei dem Versuch in Århus. Hier hat man also die Klassen 0-2 gestrichen und stattdessen Basisgruppen mit alle drei Jahrgänge geschaffen. Die eine Schulleiterin war im Fernsehen am anderen Tag. Als Vorteil bei diesem System hat sie genannt, dass der Niveauunterschied innerhalb der Klasse hiermit viel größer wird. Damit wird der Lehrer gezwungen Niveaudifferenzierung zu machen, weil die sonst übliche Durchsnitsunterricht einfach nicht mehr möglich ist.