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Jugendbücher D/DK

Verfasst: 08.12.2008, 20:43
von micha_i_danmark
...was mir neulich beim Stöbern im Buchladen aufgefallen ist: In Dänemark sind 80% aller Jugendbücher Fantasyromane, die restlichen 20% überwiegend Herz-Schmerz-Pferdeliebhaber Romane. Romane, die Altagsprobleme behandeln und in Deutschland Gang und Gebe sind, findet man in dänischen Buchläden kaum. Woran mag dieser unterschiedliche Geschmack der Käufer (denn die bestimmen ja letztendlich das Angebot) wohl liegen?

Mit verwunderten Grüssen

Micha

Verfasst: 09.12.2008, 14:49
von FRE4K
Hej, das ist mir auch schon aufgefallen und hat mich sehr geärgert.
Ich lese nämlich auch sehr gerne Bücher, die Alltagsprobleme behandeln etc. Musste mich dann mit einem Herz-Schmerz-Buch zufrieden geben, immer noch besser als Fantasy :P

Warum das so ist? Keine Ahnung, vielleicht sind die Dänen so glücklich, dass sie sich nicht mit den Problemen anderer beschäftigen wollen ;)

Verfasst: 09.12.2008, 14:53
von Engel 81
oder sie verschliessen einfach mal die Augen vor den Problemen....

Verfasst: 09.12.2008, 18:45
von Ingrid Crone
Ich sehe es so, dass in DK leider die geschlechtsstereotype Erziehung extrem zugenommen hat. Das beginnt schon bei der Kleiderwahl kleiner Mädchen im Kindergarten...die wollen nur pink tragen....die Jungen Superman und Batman sein....die Mädchen Prinzessinnen und Feen....das nötige Kostüme-mässige Outfit haben sie zuhause im Kinderzimmer.

Und das setzt sich halt auch in der Publikation verfügbarer Literatur im Jugendalter weiter durch. Die Verlage entscheiden letztendlich, was sie publizieren, und vielleicht sollte man da mal kritisch nachfragen?!

Man darf nicht vergessen, dass die feministische Bewegung, der 80er Jahre in Deutschland die Kinder-und Jugendliteratur mit geprägt hat. In DK hat diese Welle des Feminismus nie angeschlagen.
Ja, jetzt werden mir einige Leute diese neue, sogenannt feministische Literatur in DK entgegenhalten wollen....Bücher wie Fisseflokken etc....
Das ist aber bei weitem nicht das selbe, wie eine kritische, feministische Bewegung, die Einfluss auf die Gesellschaft im Übrigen ausübt.
Und in diesem Punkt haben Kinder in Deutschland heute klar einen Vorteil von der damaligen Entwicklung in Deutschland, von der wir in DK weit entfernt sind.

Gruss, Ingrid

Verfasst: 09.12.2008, 19:34
von Ingrid Crone
PS:
Verlage wie Frauenoffensive, München oder Orlando, Berlin müssen in DK erst noch erfunden werden.
Die, in Deutschland so bekannten Frauenbuchläden sowieso.
Naja, und da braucht man sich über die in DK verfügbare Literatur für Kinder und Jugendliche meiner Ansicht nach auch nicht weiter zu wundern....
In DK bedeutet feministisch, dass einzelne Frauen ihre eigenen Bücher publizieren. In D bedeutet feministisch, dass Frauen vernetzt arbeiten.

Es gibt im heutigen Dänemark so weit mir bekannt (und sollte ich mich täuschen, dann freue ich mich über jede Art der Aufklärung diesbezüglich ganz enorm....denn ich würde wirklich wünschen, es verhielte sich anders!) keinen einzigen feministischen Frauenarbeitsplatz, wie es in Deutschland die Frauentherapiezentren, die Frauenbuchläden oder die Frauenverlage als nur einige Beispiele sind.
Tja, wo sollen dänische Kinder da andere Modelle finden, als Prinzessinnen/Freen versus Batman/Superman....fantasy versus Herz-Schmerz-Schnulzen????
Sie scheinen zu reproduzieren, was ihnen vorgelebt wird. Und danach besteht Nachfrage....und das kann allerdings wirklich Herzschmerz auslösen....zum schluchzen und gähnen. ggg

Verfasst: 10.12.2008, 11:55
von MichaelD
Das ist endlich mal wieder eine spannende Diskussion!

Ich kann das Phänomen in den Buchhandlungen auch wiedererkennen. In unserer öffentlichen Bücherei ist die Auswahl in allen Genres dagegen enorm breit, (und überhaupt ist das Angebot Welten besser als ich es in Deutschland je erlebt habe.) Wenn ich mir dann aber das Ausleiheverhalten meiner knapp 10jährigen Tochter anschaue, dann sind es nur Fantasy-, Grusel- und historische Minigeschichten (und Mickey Maus), die sie verschlingt. (Ihr glaubt doch wohl nicht, dass Fantasy nur für Buben ist?)

Die Dänischlehrerinnen klagen auf Elternabenden, dass sie bei den Kindern die Fähigkeit vermissen, das Ungewöhnliche oder Bemerkenswerte in Geschichten zu benennen. Es muss schon sehr deutlich sein, damit etwas raus kommt. Die Kinder sind offenbar heftigen Stoff gewohnt - hat das mit den allgegenwärtigen Computer- und Konsolenspielen zu tun und den Versuchen von Freizeitpädagogen, durch Fantasyrollenspiele und deren Vorbereitung die Kinder zu aktivieren und zu unterhalten - wenn sie mal aktiv werden. (OK, es gibt auch Bastelangebote.)

Eine andere Erklärung ist vielleicht die konservative Politik, die in Lebensbereiche der Kinder einwirkt. In der Schule etwa sind die Lehrer gehalten, Zusammenhänge zu schaffen zwischen dem Stoff der verschiedenen Fächer, darunter nicht zuletzt den Geschichten aus dem Christentumsunterricht und dem übrigen Stoff. (Christentumsunterricht - der Name ist Programm.) Im Geschichtsbuch stehen dann Bibelnacherzählungen ohne Einführung oder Kommentare neben personalisierten Veranschaulichungen wissenschaftlicher Erkenntnisse. Realität wird so von Fiktivem verdrängt.

Trotz dieser konservativen Politik vermisse ich viel zu oft Tiefe in den Geschichten, denen die Kinder in Schule (und Freizeitbetreuung) ausgeliefert werden. Wenn ich dieses Thema anspreche, etwa eine Botschaft oder emotionalen Wert einer vorgelesenen Geschichte vermisse, dann begegnet man mir damit, dass man vielleicht in Deutschland so auswähle. Einziges gültiges Auswahlkriterium scheint zu sein, dass die Geschichte kurzweilig ist. Ich verstehe auch nicht, wenn im Unterricht gleichgültige "Ice Age" Filme gezeigt werden, über die dann hinterher noch nicht mal gesprochen wird. (Das brachte dann aber doch einige Eltern in Rage.) Aber die Leere ist Realität.

Ob das Glück im Mangel an Erscheinungen des Feminismus liegt, wage ich zu bezweifeln. Ich meine, unsere Kinder wachsen in einer Welt auf, die gerade die bei Buben ausgeprägte Neigung zum selbstvergessenen Spiel fördert. Es ist daher kein Wunder, dass Jungen im Bildungswesen längst weit schlechter abschneiden als Mädchen. In Dänemark gilt das noch verschärft (wie z.B. PISA belegt), und eine wesentliche Ursache dafür ist die Abwesenheit von Wettbewerb in der Schule. Dadurch entsteht bei Jungen einerseits der Eindruck, es sei egal, wie viel Energie man ins Schulische legt, andererseits ist der Spass an einem guten Kampf abgeschafft.

Gruss Michael

Verfasst: 10.12.2008, 15:05
von MichaelD
Ach ja - es gibt ja in Dänemark nahezu keine Buchpreisbindung mehr. Dies verrückt ja bekanntermassen das Angebot hin nach Bestsellern, die auch noch relativ billiger werden, und generell nach einer kleineren Auswahl. Dass die populärsten Bücher unter Kindern und Jugendlichen in den genannten Genren sind, steht wohl ausser Frage, auch in Deutschland.

Verfasst: 10.12.2008, 16:05
von Kaellepot
Also mein Sohn (4) trägt auch am liebsten seine Thomas-Unterhose
und Thomas-Socken und Kaj&Andrea-Schlafanzug und seine Freundinnen sind alle in rosa gekleidet. Und wehe Mutter hätte da mal ne andere Idee. Und wir leben in Deutschland. Ich hab das Gefühl, das ist überall gleich.

Aber was mir immer wieder auffällt ist, dass die dänischen Bücher, Geschichten und Kindersendungen viel mit prut, puha, tisse, numseprut und tissemand zu tun haben, was bei uns vielleicht nicht unbedingt thematisiert wird. Siehe Doktor Pruttepulver, Mulvarpen, etc...

Aber damit kann ich leben. In Deutschland verstehts ja kaum einer. ;-)

Viele Grüsse,
Kaellepot

Verfasst: 10.12.2008, 23:21
von micha_i_danmark
Sehr interessante Rückmeldungen. Vielleicht hängt das auch wirklich mit dem unterschiedlichen Einfluss des Feminismus zusammen, obwohl ich bisher nicht wahrgenommen habe, das dieser in DK weniger alas in D ausgeprägt wäre.

Buchpreisbindung... hmmm...möglich... aber wodurch wird ein Buch zum Bestseller? Wollen die Kids wirklich nur noch Fantasy Romane lesen? Dies behandeln doch wirklich kaum die Alltagsprobleme, denen sich Jugendliche, insbesondere in der Pubertät, ausgesetzt sehen.

Wiewviel lesen Jugendliche überhaupt noch? Vielleicht ist die Rolle/Bedeutung des Buchs auch einfach überholt - was die nächste Generation angeht?

Verfasst: 11.12.2008, 08:45
von Ingrid Crone
Hallo alle

Das ist wirklich eine sehr interessante Diskussion geworden. Und ich kann merken, ich werde auch gleich ein paar Punkte rauspflücken werde, um sie mit meinen deutschen Freundinnen zu diskutieren.

Zu Micha: Die Art wie Feminismus in D und DK gelebt und vor allen Dingen umgesetzt wurde und wird ist ganz markant verschieden. Habe mit einer Dänin zu sammen, die damals DK in feministischen Kreisen aktiv war, in einer deutschen Grosstadt Frauenbuchläden, Frauenzentren, Therapiezentren etc besucht und sie hatte sich vorher durch meine Berichte darüber viel vorgestellt, aber das, was sie antraf, hat sie voll umgeworfen. Sie war so begeistert von diesen Räumen und Möglichkeiten und meinte auch, etwas ähnliches habe sie in DK nie erlebt.
Das ist ja bis heute eine in Deutschland erhaltene Tradition, die für mein Fach Psychologie bis hin zu Frauentherapiekongressen geht.

Und mir sind in diesem Bereich einige Frauen bekannt, die angefangen haben, zuerst für Erwachsene zu publizieren, und später auch Kinderbücher zu schreiben. Denn innerhalb dieser Bewegung entstand ursprünglich die Forderung, dass es bei Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf allein nicht bleiben kann. Wir brauchten mehr Bücher über starke, freche Mädchen. Die haben wir heute in Deutschland auch. Und die hat es in DK auch früher schon gegeben. Das emotionale Verhalten von Kindern wurde schon früher nicht so klischeehaft dargestellt in dänischen Kinderbüchern. Kinder durften dreckig sein, wenn sie spielten etc. Das ist ja auch noch so. Nach wenigen Stunden im Kindergarten sind sie nicht mehr pink, sondern schwarz-pink, die kleinen Mädchen.

Zu Michael: Ja, Du hast da viele ganz wesentliche Punkte! Die Bildungspolitik der dänischen Folkeskole....das gemeinsame Thema durch alle Fächer. Ich assoziierte sofort: das gemeinsame Thema durch die Gesellschaft ist Grundvig: Das Konzept der Folkeskole bassiert auf Grundvig, die dänische Folkekirken (Volkskirche) bassiert auf Grundvig, die Højskoletradition (Hochschule für Erwachsene) bassiert auf Grundvig...
Da mein Mann kommunalpolitisch aktiv war, habe ich mich des öfteren mit dänischen Politikern über die Schulpolitik gestritten und sie mit meinen Schulerfahrungen aus Deutschland verglichen. Nicht zuletzt mit Marianne Jelved, die ja selber Lehrerin ist. Das Kurze und das Lange und wo alles immer endet in diesen Diskussionen ist: GRUNDVIG....dänisches Kulturerbe und wahrscheinlich auch im Kulturkanon zu finden...hahahaha
Die provokative Frage habe ich mich aber noch nicht zu stellen gewagt, warum wir es dann nicht einfach dabei belassen, Grundvigs gesammelte Werke zu lesen so ungefähr und den Rest ganz wegschmeissen...müsste ja dann reichen oder???
Eine Haltung, wo wir nicht neudenken/umdenken können oder neues integrieren können, weil wir Grundvig denken (also nicht sowohl als auch, sondern nur entweder-oder denken können), die ist in hohem Masse als konservativ zu bezeichnen.

Und Du nennst die Medienwelt, von der Kinder beeinflusst werden. Ja, beeinflusst sie in ganz extremem Masse: die Werbung, die Filme....manche Kinder sitzen soviel wie sie irgend können vor ihren Lieblings-Videofilmen, sobald sie zuhause sind.
Ich erlebe bei vielen Kindern in unserer Familie, dass sie keine Kontinuität mehr in ihren Spielen haben, keine Geschichten mehr erfinden, die sie spielen, sondern von einem zum andern springen. Sich nicht mehr vertiefen. Und wenn man ihnen Geschichten vorliesst, können sie sich auch nicht mehr so gut in Ruhe darauf konzentrieren. Sie laufen rum, spielen mit anderen Dingen und hören nebenbei auch zu, was man vorliesst.(Kinder zwischen 4-6 Jahren) Ok, vielleicht ist das positiv: sie lernen multitasking??? Ich bin auf jeden FAll voll gestresst, wenn ich das erlebe. Aber komischerweise, das muss ich ihnen lassen, können sie meine Fragen zum Text auch beantworten!!! Also sie können das was, was ich auf gar keinen Fall könnte..grins.
Gibt aber auch andere Kinder in unserer Familie, deren Eltern ganz grossen Wert darauf gelegt haben in der Erziehung, dass die Kinder sich entspannen und zur Ruhe fallen und fokusiert und konzentriert sind. Diese Kinder hatten in dem Alter ein ganz anderes Spielverhalten und eine andere Form der Aufmerksamkeit. Aber nicht alle Eltern haben selber diese Ruhe in sich, sondern sind abends selber gestresst und müde.
Ist auf jeden Fall schade und traurig zu beobachten, dass diese Vielfalt (scheinbar also auch in Deutschland) wieder verloren geht und Kinder wieder stereotypere Wahlen treffen und leben.
Aber die Leselust und Bücher (e-books sind ja jetzt im kommen!!!) werden nie verloren gehen, daran glaube ich fest. Denn die, die lesen, lesen viel. Eine Statistik zeigte letztes Jahr, dass Dänen durchschnittlich pro Monat ein Buch kaufen! Das hat mich echt erstaunt zu hören, weil die Buchpreise hier enorm hoch sind.
...ups, das wurde lang...

Gruss, Ingrid