Flexicurity – Adaption auf den deutschen Arbeitsmarkt?

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MichaelD
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Beitrag von MichaelD »

Ich bin leider sehr skeptisch, ob Flexicurity eine Chance in Deutschland bekommt.

Denn zum einen ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik mit einem echten Interesse des Staates an Umschulungen sehr, sehr teuer, wenn man auf die Wirkung auf die öffentlichen Kassen sieht. Ökonomisch (und damit langfristig auch kassenmässig) mag sie noch so sinnvoll sein, aber mit dem erdrückenden Übergewicht an Juristen und Verwaltungsspezialisten im Bundestag und den Bundesbehörden hat diese dynamische Sichtweise keine Chance. Das ist wie bei der Frage der Abschaffung der Wehrpflicht, einer Institution, die auch unökonomisch ist.

Der Kasseneffekt wird kurz- und mittelfristig Steuererhöhungen (oder empfindliche Einsparungen an anderer Stelle) erfordern, und das ist unrealistisch. Das ist weder mit den bürgerlichen Parteien zu machen, noch mit den Sozialdemokraten, denen der Spatz in der Hand ja auch regelmässig lieber ist als die Taube auf dem Dach. Es waren ja die Sozialdemokraten, die Umschulungen praktisch abgeschafft haben.

Die deutschen Gewerkschaften machen die Reste ihres Einflusses schon geltend, um gegen eine Anhebung der Verrentungsgrenze zu protestieren. Dabei ist diese völlig natürlich in einer Zeit, in der alle älter werden und mit 65 noch fitt sind. Den Gewerkschaften sind die Arbeitslosen egal, diese sind ja keine Mitglieder. Allenfalls wird mit Arbeitslosen argumentiert, wenn man deren Interessen den eigenen vorschieben kann. Deshalb werden die Gewerkschaften genau wie bei der Verrentungsfrage auf Besitzstandswahrung setzen, sie werden gegen eine deutliche Herabsetzung der Kündigungsfristen Sturm laufen - egal ob man Ihnen dafür viel mehr Umschulungen und längeres Arbeitslosengeld verspricht.

Die Arbeitgeber wollen vor allem niedrigere Steuern und das Recht, qualifizierte Ausländer anzuheuern. Das passt nicht.

Auch die Bürger werden skeptisch sein:

Zum einen die noch knapp 20 Millionen Festangestellte wegen der vergrösserten Unsicherheit, die sie erleiden müssen.

Zum anderen, weil die Kosten des Wohnungswechsels in Deutschland so hoch sind, dass zwangsvermittelte Arbeitsplätze ausserhalb von Pendlerabständen Albträume bereiten können. Wer im Osten ein Häuschen für 100.000 Euro hat, davon die Hälfte Eigenkapital, wird sich gründlich überlegen, ob er dies verkaufen, dabei 20.000 Euro Staat, Bank, Makler und Umzugsfirma in den Hals wirft, um dann mit einem unsicheren Job in der Tasche im Westen zu teurer Miete zu wohnen. Es ist ja nicht gerade so, dass der Staat sich dafür engagiert, die Missbräuche der Banken zu bekämpfen oder attraktivere Kreditformen zu ermutigen, die Grunderwerbssteuer abzuschaffen, die Unsicherheiten des Erwerbs von Häusern zu reduzieren oder die Anciennitätsvorteile bei Mietverhältnissen zu beseitigen.

Und dann sind da noch die juristischen Risiken: Aktive Arbeitsmarktpolitik a la Dänemark könnte vor deutschen Gerichten schon mal als Zwangsarbeit verboten werden.
Lundi1
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Beitrag von Lundi1 »

Hej,

ich halte den folgenden Artikel für bemerkenswert:

http://www.presseportal.de/pm/51902/1007329/institut_der_deutschen_wirtschaft_koeln_iw_koeln/rss

Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass Wertevorstellungen wirklich objektiv messbar sind, und bin der Meinung, dass einige Passagen der Argumentation zu diskutieren sind.

LG

Lundi
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Lars J. Helbo
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Beitrag von Lars J. Helbo »

Das Problem an diesen Artikel liegt eigentlich woanders. Sie liegt in diesem Satz:
Geringqualifizierte bekommen 90 Prozent
ihres vorherigen Bruttolohns ausbezahlt - führt nicht dazu, dass
Arbeitslose die Füße hoch legen.
Die ist ganz typisch - für jemanden, der keine Ahnung hat :wink: Es fehlt nur noch der Zusatz, dass diese Unterstützung 4 Jahre lang gezahlt würde.

Was hier nicht verstanden wird ist ja, dass in diesem Model auch das Arbeitsamt eine aktive Rolle spielt. Sie muss ja für jeden Arbeitslosen ein Handlungsplan erarbeiten. Das bedeutet, dass jeder Arbeitslose nach wenigen Monaten wieder in Arbeit oder in Umschulung ist. Füße hoch legen ist da nicht vorgesehen.
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Peter

Beitrag von Peter »

zudem muß unbedingt erwähnt werden daß der Höchstsatz für Arbeitslosengeld ca 14200,- Kronen beträgt welches dann noch versteuert wird...!!!!....wenn man dann vorher 30000,- hatte sind es dann nur noch 50% statt angeblicher 90%
Ausserdem bekommt man 80% Stütze und nicht wie in dem Artikel erwähnt 90%

Zusätzlich kann man eine Versicherung abschliessen die recht viel kostet um dann mehr Arbeitslosenstütze zu bekommen

Gruß
Lundi1
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Beitrag von Lundi1 »

Hej,

ich wunderte mich auch über einige Inhalte des Artikels, insbesondere deshalb, weil es sich um eine Pressemitteilung aus dem Institut der d. Wirtschaft (Köln) handelt.

In den Beiträgen dieses Threads sind viele überzeugende Argumente genannt worden, warum das dänische Flexicurity-Modell kaum übertragbar auf andere Länder ist. Möge es weiterentwickelt und den entsprechenden Verhältnissen angepasst werden.
Es ist beispielsweise ein faszinierender Gedanke, dass dadurch besonders die Jugendarbeitslosigkeit gesenkt werden könnte.

Manchmal denke ich allerdings , dass das dänische Flexicurity-Modell etwas zu positiv in den Medien dargestellt wird , freundliche Arbeitsvermittler, die sich intensiv um Fortbildungsangebote kümmern etc., Bilderbuchstatistiken, glückliche Arbeitnehmer, Arbeitssuchende. Aber das kann ich nicht beurteilen.

Wichtig ist, dass „Flexicurity“ ( ein neuer Begriff für eine lange Tradition) in Dänemark allein nicht zum Erfolg führte, sondern eine langfristige , stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik.

LG

Lundi
maybritt h
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Beitrag von maybritt h »

Zur Info
Dänischer Arbeitsmarkt
Andere Länder, andere Werte

[url=http://www.iwkoeln.de/default.aspx?p=pub&i=2053&pn=2&n=n2053&m=pub&f=4&ber=Informationen&a=20326]Institut der deutschen Wirtschaft Köln[/url]


Maybritt
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If you don't want your future boss to read it,
don't post it."
MichaelD
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Beitrag von MichaelD »

Das IW ist auch eine Interessenorganisation. Die haben nicht unbedingt ein Interesse, die volle Wahrheit zu vermitteln.

Michael
MichaelD
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Beitrag von MichaelD »

Hatte jetzt Zeit, den von Maybritt angegebenen Aufsatz zu studieren. Er ist sprachlich schon weniger missverständlich als die kurze Zusammenfassung für die Presse.

Ich fasse die Behauptung der mangelnden Übertragbarkeit allerdings als politisch manipuliert auf.

Zum einen wird der behauptete Zusammenhang zwischen dem generellen Sozialstaatsmodell und der mangelnden Übertragbarkeit von Flexicurity nicht klar. Es gibt natürlich Zusammenhänge, aber diese werden nicht beleuchtet. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es der Verfasserin vor allem darum geht, mit der Angabe der hohen Steuersätzen und dem "universalistischen" Staat Antipathien zu wecken.

Zum anderen halte ich die Gewichtung der Zwangsinstrumente der aktiven Arbeitsmarktspolitik im Verhältnis zu moralischen Grundhaltungen für irreführend.
Die dänischen Arbeitslosen suchen nicht deshalb aktiv, weil sie Skrupel haben, sondern weil die Ärbeitsverwaltung ständig Belege der aktiven Suche verlangt, weil bei Missbrauch handfeste Strafen warten, weil die Zumutbarkeit von Jobs weiter geht, weil die Aktivierung arg unangenehm sein kann, und weil hohe Verbrauchssteuern und Benutzerabgaben die Kaufkraft von Sozialleistungen aushöhlen. All das, oder jedenfalls viel davon lässt sich sehr wohl auf Deutschland übertragen, aber das will die deutsche Industrie, die hinter dem IW steht, nicht signalisieren. Denn aktive Arbeitsmarktspolitik ist wie gesagt teuer.

Die hohe soziale Moral der Dänen erachte ich demgegenüber bedeutungsmässig überbewertet. Die Personen, die in DK heute noch mehr als kurzfristig arbeitslos sind, haben vermutlich typisch andere Moralvorstellungen als die zitierten 85%. Was noch hinzukommt: Soziale Moral ist nicht gottgegeben, sondern eine Funktion der Gerechtigkeit. In Deutschland ist das Gefühl weit verbreitet, dass die soziale Gerechtigkeit immer mehr abnimmt und dass dazu neben der Steuerpolitik auch die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik erheblich beiträgt. Kein Wunder, dass es um die Moral schlecht steht. Den Aufsatz des IW lese ich daher so, dass man mit dem Verweis auf die moralisch negativen Folgen einer falschen Politik mehr dieser Politik fordert, jedenfalls ein Umsteuern ablehnt. Mit einer anderen Politik entfiele auch hier das Argument der mangelnden Übertragbarkeit.

Michael
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